Plötzlich klingelte das Telefon. Ich nahm ab, und am anderen Ende war eine Bekannte. Ihre Stimme klang merkwürdig angespannt, fast geheimnisvoll. Sie eröffnete mir, dass sie kürzlich umgezogen sei und seitdem — so ihre eindringliche Behauptung — ein echtes Spukproblem in ihrer neuen Wohnung habe. Sie brauche dringend meine Hilfe, um der Sache auf den Grund zu gehen. Ob ich ihr dabei helfen könne?
Natürlich bat ich sie, mir alles genau zu erzählen.
„Es ist wirklich verrückt“, begann sie. „Peter und ich sind endlich zusammengezogen und fanden diese kleine, charmante Wohnung im Nachbarort. Aber seit wir hier sind, passieren völlig bizarre Dinge. Das Schlimmste sind die Bücher. Ständig fallen sie aus den Regalen! Egal wie sorgfältig ich sie staple, kurz darauf liegen sie schon wieder auf dem Boden. Zuerst dachte ich, Peter will mir einen Streich spielen. Aber letztes Wochenende waren wir gemeinsam weg. Als wir zurückkamen, lag der Stapel wieder auf dem Teppich. Da wusste ich mit absoluter Sicherheit, dass er es nicht war. Ich habe überlegt, ob ein Tier im Spiel ist oder ob der Vermieter heimlich einen Schlüssel hat und sich einen üblen Scherz erlaubt. Glaube mir, in so einer Situation schießen dir wirklich die wildesten Gedanken durch den Kopf.“
Der erste Beweis und eine verrückte Idee
„Also räumte ich die Bücher wieder ein“, fuhr sie fort. „Und kaum standen sie im Regal, fiel eines direkt vor meinen Augen wieder heraus! Es war, als würde es jemand herausschubsen. Das ergab absolut keinen Sinn! Ich fluchte leise vor mich hin, bückte mich, um es aufzuheben – und in dem Moment knallte mir ein weiteres dummes Buch auf den Kopf!“
Sie seufzte. „Du kennst mich, ich bin normalerweise hart im Nehmen, aber das hier ist zu viel. So kann das nicht weitergehen. Vielleicht hat es ja etwas mit Peters Vorfahren zu tun? Er, also Peter, erwähnte so etwas. Die Wohnung ist ein Neubau, also liegt es nicht am Alter des Hauses.“
„Ich dachte mir deshalb, wir könnten zusammen zum Dorffriedhof fahren und uns die alten Familiengräber ansehen. Ich weiß nicht, wieso – aber es wäre ein Anfang. Seine Familie selbst können wir nicht fragen, die reagieren auf so etwas nicht gut. Das habe ich schon probiert.“
Wir vereinbarten, uns am nächsten Nachmittag zu treffen.
Die Spurensuche auf dem Friedhof
Am nächsten Tag schlenderten wir über den alten Friedhof. Sandra untersuchte jeden Grabstein und jede Inschrift akribisch. Als sie fast fertig war, stand ich etwas abseits und bemerkte die seltsame Aufteilung des Geländes. Mir fiel auf, dass ein bestimmter, abgelegener Bereich offenbar für Menschen reserviert war, die einem anderen Glauben angehörten als die Einheimischen.
Plötzlich schoss mir ein Gedanke durch den Kopf: „Moment mal. Vielleicht hat das Ganze gar nichts mit Peters Verwandtschaft zu tun! Vielleicht müssen wir die beiden Dinge völlig getrennt betrachten?“
Die unerwartete Präsenz
Plötzlich drehte ich mich wie von einem Impuls gesteuert zu Sandra um. Ich wusste nicht, warum ich es tat, aber die Frage sprudelte einfach aus mir heraus: „Wer steht hinter Sandra?“
Im selben Augenblick sah ich ihn. Direkt hinter ihr, fast an sie gelehnt, stand ein älterer Mann. Er trug ein hellblau-kariertes Hemd und eine Stoffhose und schaute neugierig über ihre Schulter, um die Inschrift des Grabsteins mitzulesen.
Innerhalb von Sekundenbruchteilen überflutete mich eine Lawine von Wissen über diesen Mann. Es war, als wäre mein Kopf ein Computer, der in unvorstellbar kurzer Zeit immense Daten über diese Seele herunterlud. Ein wacher, interessierter Geist, der Humor besaß – und etwas zu klären hatte.
Ich verspürte keinerlei Angst. Der Mann war eindeutig als Seele erkennbar, aber er wirkte zu menschlich, um bedrohlich zu sein. Obwohl er das Aussehen einer normalen Person hatte, war sein Körper gläsern, ihm fehlte die Dichte der Lebenden. Ich wusste sofort, was hier geschah, doch ich blockierte innerlich. Diese Art der Erfahrung war neu und beunruhigend; ich musste das Neue erst einmal verarbeiten.
Verwirrt und langsam schlenderte ich zu meiner Freundin hinüber.
Die Enthüllung
In meinem Kopf herrschte Chaos: Sollte ich ihr das erzählen? Würde sie mich für verrückt halten? Wie bringe ich ihr das bei? Und wer zum Teufel war das gerade?
Sandra bemerkte meine Abwesenheit sofort und hakte besorgt nach. Zuerst versuchte ich, sie abzuwimmeln – ich sei nur in Gedanken versunken. Aber sie kannte mich zu gut und ließ nicht locker. Mir blieb nichts anderes übrig, als reinen Tisch zu machen. Die ganze Geschichte sprudelte ungefiltert aus mir heraus.
Sandra stand hilflos da, Tränen stiegen ihr in die Augen. „Ich weiß“, flüsterte sie schließlich. „Es geht um meinen Urgroßvater! Obwohl ich ihn nie kennenlernen durfte, hatte ich immer das Gefühl, er ist bei mir!“
Die Bitte aus dem Jenseits
Angesichts von Sandras Vertrauen und der positiven Energie des Geistes öffnete ich mich langsam wieder für die ungewohnte Situation.
Wir stiegen ins Auto und fuhren in Richtung Heimat. Da, mitten auf der Fahrt, sprach der Geist mich an. Ich konnte ihn zwar nicht sehen, doch seine Präsenz war nun deutlich spürbar. Seine Worte waren klar: „Du musst mir bitte helfen! Ich bin Sandras Urgroßvater und ich habe schon lange etwas Wichtiges zu klären!“
Obwohl ich im ersten Moment überfordert war, wuchs in mir das tiefe Gefühl, dass ich ihm helfen musste. Meine Hilfe galt nicht nur den Lebenden, sondern auch dieser armen Seele. Daher fuhren wir, seinem Wunsch folgend, direkt zu Sandras Mutter.
Die Aussprache und der Dolmetscher
Als wir bei ihr ankamen, schnitten wir das heikle Thema behutsam an. Solche Gespräche sind immer riskant, man weiß nie, wie jemand reagiert. Doch Sandras Mutter war überraschend offen. Ich konnte ihr alles erzählen und fungierte als Dolmetscher für den Urgroßvater. Er sprach zu mir, und ich gab seine Worte weiter:
„Mein Kind, es tut mir von Herzen leid. Bitte verstehe, ich konnte damals nicht anders handeln. Meine Hände waren gebunden. Ich liebe Dich sehr!“
Sandras Mutter sah mich an. Tränen strömten ihr über die Wangen, ein herzzerreißender Bach aus Erleichterung, Trauer und Rührung. Sie war glücklich und zutiefst berührt.
Immer wieder murmelte sie: „Ich habe gewusst, dass es nicht stimmt. Ich habe es immer gewusst!“
Neugierig fragten Sandra und ich nach. Ihre Mutter enthüllte eine Geschichte, über die sie nie zuvor mit jemandem gesprochen hatte. Ihr Großvater hatte zwei Kinder: ihren Vater und ihren Onkel. Der Vater hatte "nur" zwei Töchter, während der Onkel Söhne zeugte. Obwohl der Großvater seine Enkelinnen – und besonders Sandras Mutter – über alles liebte, war er den damaligen Etiketten und der Tradition verpflichtet. Trotz seiner Liebe durfte er den Enkelinnen keine persönlichen Erbstücke hinterlassen. Alles musste an die Söhne des Onkels als männliche Nachfolger gehen.
Als junge Frau hatte Sandras Mutter diese Handlungsweise nie verstanden und deswegen an der Liebe gezweifelt, die er ihr zu Lebzeiten entgegenbrachte. Die Familie hatte durch diese alte Sitte ein eher bescheidenes Leben geführt. Nun schien sie ihren Frieden zu finden.
Der Urgroßvater war während der gesamten Erzählung anwesend; auch wenn die Frauen ihn nicht sehen konnten, spürten sie seine Anwesenheit.
Das größte Geschenk
Bevor er ging, bat er mich, der Mutter noch eine letzte Nachricht zu übermitteln: „Sag ihr: Das Buch, das sie bekam, ist ein größeres Geschenk, als sie glaubt.“
Verdattert starrte Sandras Mutter mich an. Sekunden später rannte sie in ein kleines Zimmer. Wir folgten ihr.
Dort stand eine kleine Kommode. Sie öffnete sie, kramte kurz darin herum und zog wortlos einen mittelgroßen Karton hervor. Sie öffnete ihn vor unseren Augen. Darin befand sich das besagte Buch.
Sie hob es feierlich hoch: „Dieses Buch ist das Einzige, was ich je von meinem Großvater geerbt habe. Weil ich von diesem unpersönlichen Geschenk so enttäuscht war, habe ich es sofort in diesen Karton verstaut und nie wieder angerührt.“
Neugierig begann sie darin zu blättern.
Das Buch blieb von selbst an einer bestimmten Stelle offen. Dort war säuberlich ein Quadrat aus den Blättern herausgeschnitten. In diesem Fach lag ein kleiner Gegenstand, eingewickelt in hellbraunes Seidenpapier.
Sandras Mutter nahm ihn vorsichtig heraus und entfaltete das Papier. Zum Vorschein kam ein edler Goldring mit dem Siegel des Großvaters. Wir waren sprachlos und zutiefst gerührt. Die Erlebnisse waren schlicht zu unglaublich.
Der Geist verschwand schweigend. Alles war gesagt.
Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass diese Geschichte auch in Ihnen jenes tief bewegte Gefühl hinterlässt, das wir Beteiligten in diesem unvergesslichen Moment erfahren durften.
Fühlt Euch umarmt
Jasmina
